Es wurde Zeit! Viele Jahre lang war Louis Spohr als umjubelter Geigenvirtuose und Komponist in Europa unterwegs, gefeiert von Presse und Publikum. Inzwischen hatte er auch eine Familie gegründet und hatte, wie auch seine Frau, das Bedürfnis, sesshaft zu werden. Da wurde ihm die Stelle als Hofkapellmeister in Kassel angeboten – und Spohr griff zu! Er handelte einen für ihn günstigen Vertrag mit dem Kurfürsten aus, der ihm eine Anstellung auf Lebenszeit garantierte, zusammen mit einem ansehnlichen Gehalt. Auch eine schöne Wohnung hatte er an der „Schönen Aussicht“ angemietet.
Am 14. Januar 1822 kam Louis Spohr in Kassel an, seine Familie kam erst im Frühjahr nach. Was mochte ihm wohl alles durch den Kopf gegangen sein? Wie würde er wohl mit dem neuen Kurfürsten Wilhelm II klar kommen? Würde er das Niveau des Orchesters heben können? Er konnte nicht ahnen, dass ihm das in höchstem Maße gelingen sollte. Ob seine Vorstellungen von erfolgreicher Chorarbeit sich wohl verwirklichen ließen? Weiter konnte er nur hoffen, dass er sich im Kampf gegen die oft fehlende Achtung der Menschen gegenüber Musikern wenigstens in Kassel durchsetzen konnte. Zu oft hatte er diesen mangelnden Respekt erfahren. Sein soziales Gewissen sollte ihm Richtschnur sein bei der Behandlung der ihm untergebenen Musiker.
Für seine Zeit ungewöhnliche Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Auf jeden Fall hatte er vor, trotz aller Verpflichtungen im Hoftheater seine Vorstellungen vom richtigen Geigenspiel weiterzugeben. Würde er genügend Schüler finden? Voller Pläne begann Spohr seine Tätigkeit in Kassel, nicht ahnend, dass auch manche Schwierigkeiten mit seinem Arbeitgeber auf ihn warteten; nicht ahnend, wie sich trotz allem sein Ruhm in aller Welt ausbreiten würde; nicht ahnend, wie privater Schmerz durch den Tod von Frau und Tochter sein Leben veränderte; nicht ahnend, wie eine neue Ehe ihm neue Schaffenskraft verleihen sollte. Noch lag all das im Dunkeln, was wir heute von seiner schaffensfrohen Zeit in Kassel wissen. 37 lange Jahre voller Erfolg waren Spohr in Kassel vergönnt. Nach gut 160 Jahren fragen wir uns: Was ist aus dieser Zeit heute noch gegenwärtig? Was ist geblieben? Welche Spuren hat Spohr in Kassel und in seinem Lebensumkreis hinterlassen? Gehen wir dem ein wenig nach.
Sicher, dieses Organigramm sieht in seiner grafischen Form recht nüchtern aus. Man muss es mit Leben erfüllen, wobei es gilt, zuerst nach diesem Leben zu suchen. Beginnen wir mit der Suche in Kassel. Da fällt mir natürlich zuerst das Spohr-Denkmal ein, das unter großer Anteilnahme (und vorausgehender finanzieller Beteiligung) der Bevölkerung 1883 anlässlich seines 100. Geburtstages auf den Opernplatz gestellt wurde – eine Idee, die aus der Bürgerschaft Kassels kam.
Erst sehr viel später (1908) bildeten an Spohrs Andenken interessierte Menschen einen Verein mit dem Namen „Internationale Louis-Spohr-Gesellschaft e. V. Kassel“. Dabei wirft allerdings das Wort „International“ Fragen auf, da man daraus auf Ableger der Gesellschaft in anderen Orten der Welt schließen könnte. Dem ist aber nicht so, aber vielleicht ist der internationale Austausch der Spohr-Experten gemeint.
Nach der im Dritten Reich allerorten üblichen Konfiszierung von Exponaten und anderen musealen Gegenständen aus Museum und Spohr-Archiv sowie Gleichschaltung und Auflösung der Spohr-Gesellschaft war es der privaten Initiative von Herfried Homburg zu verdanken, dass die Internationale Louis-Spohr-Gesellschaft und das Spohr-Museum nach dem Krieg wieder gegründet wurden und ihre Arbeit wieder aufnehmen konnten. Durch eine vertragliche Vereinbarung mit der Stadt Kassel sind Museumsleitung und Museum (finanziell) eng miteinander verwoben. Deutlich sichtbar ist die Internationale Louis-Spohr-Gesellschaft heute vor allem durch das vom Verein betriebene Spohr-Museum Kassel. Wegen der Sanierung von Schloss Bellevue an der Schönen Aussicht ist es z. Zt. im Südflügel des alten Hauptbahnhofs untergebracht. Ein hoch interessantes Museum, aber seine Außenwirkung ist doch sehr begrenzt. Es gibt Kasseler Bürger, die noch nicht einmal von seiner Existenz wissen. Sicher, sein Standort ist nicht gerade optimal, abgelegen und schwer zu finden. Da aber die Rückkehr in das Schloss Bellevue fest für 2021 vereinbart ist, kann man nur hoffen, dass es dann zu einem attraktiven Ort der Spohr-Pflege wird. Mit einem kleinen Veranstaltungssaal soll das Schlösschen ein Zentrum für Kammermusik werden, in dem nicht nur Spohr, sondern auch Werke anderer Kasseler Größen aufgeführt werden sollen.
Aber es gab auch andere Menschen, die sich für Spohr besonders interessierten und sein Ansehen noch mehr ins Bewusstsein der Bevölkerung rücken wollten. 1994 bildete sich der Förderverein Louis-Spohr-Stiftung e. V. (und 10 Jahre später die von ihm ins Leben gerufene Louis-Spohr-Stiftung) und holte mit dem Internationalen Louis-Spohr-Wettbewerb talentierte junge Künstlerinnen und Künstler nach Kassel. Viele Kasseler Bürger werden sich an die begeisternden Abschlusskonzerte mit Preisverleihung erinnern (Louis-Spohr-Förderpreis und Louis-Spohr-Publikumspreis). Das nach Spohrs begabtestem Schüler benannte Hugo-Staehle-Festival und dem damit verbundenem Hugo-Staehle-Stipendium ist ein weiterer Schwerpunkt dieses Vereins. Hinzu kommen verschiedene Konzerte, bei denen natürlich auch Spohr-Musik ertönt; es gibt einen Musikalischen Stammtisch, hin und wieder einen Musikspaziergang und – nicht zu vergessen – die Reihe Spohr-Schriften, welche die Musikstadt Kassel in ihren ganz unterschiedlichen Aspekten und Ausprägungen schildert.
Eine weitere Initiative ist das Kammerorchester Louis Spohr, eine private Gründung von Wolfram Geiss, Solocellist am Staatstheater Kassel und Dozent an der Musikakademie der Stadt Kassel, die damals noch nicht Spohrs Namen trug. Geiss war mit seinem Pallas Trio an der Produktion der ersten CD beteiligt, welche die Louis-Spohr-Stiftung in Zusammenarbeit mit Wintershall herausgegeben hat – natürlich mit Spohr-Musik!
Erinnern möchte ich noch an die Spohr-Sinfonietta unter Lore Schrettner, die über viele Jahre hinweg im Januar eines jeden Jahres ihre Neujahrskonzerte gab. – Alles in allem eine beeindruckende Fülle von privaten Initiativen rund um Louis Spohr.
Wirft man einen Blick auf die Spalten rechts und links des Organigramms, so sieht man, dass auch Spohrs GeburtsortBraunschweig, der Ort seiner Kindheit Seesen und seine langjährige Wirkungsstätte Gotha des großen Musikers Spohr in verschiedener Weise gedenken. Nicht zu vergessen den Mitteldeutschen Sängerbund Kassel, der eine „Louis-Spohr-Plakette“ verleiht.
Noch einmal zurück zur Stadt Kassel. Von offizieller Seite – also auf Initiative der Stadt – wurde auch einiges auf den Weg gebracht. Bereits 1847 wurde Spohr anlässlich seines 25-jährigen Dienstjubiläums zum Ehrenbürger der Stadt ernannt. Später benannte man eine Straße nach ihm, die aber von vielen Bürgern nur mit dem lange Zeit dort beheimateten Finanzamt in Verbindung gebracht wurde. Warum man diese kleine Straße wählte, war damals klar: An der Ecke zur Kölnischen Straße stand das Wohnhaus, das Spohr rund 30 Jahre lang bewohnte. Aber wer weiß das schon? Anderenorts ist es üblich, an solch markanten Stellen eine Möglichkeit zu schaffen, sich an eine/n der großen Töchter oder Söhne der Stadt zu erinnern. Aber das kann man ja noch nachholen …
Vor ungefähr 100 Jahren, als die Stadt Kassel begann, Ehrengräber für verdiente Kasseler Bürgerinnen und Bürger einzurichten, gehörte Spohr sicher zu den ersten, denen diese Ehre zuteil wurde. Aber all das ist lange her! Könnte z. B. nicht wieder einmal eine von Spohrs Opern im Staatstheater aufgeführt werden so wie vor einiger Zeit Spohrs Oratorium „Die letzten Dinge“ durch die „Louis-Spohr-Akademie“ (siehe unten!)? Ich erinnere mich, dass vor Jahrzehnten das „Spohr-Quartett“ durch die Kasseler Schulen zog, um den Kindern klassische Musik (und auch die Instrumente) nahe zu bringen? Schon damals, vor über 50 Jahren, musste der 1. Geiger den Kindern erklären, dass das Standbild auf dem Opernplatz nicht den „alten Brenninkmeyer“ zeige, der Geige spielt, sondern dass das der berühmte Geiger und Komponist Louis Spohr sei. Heute müsste wohl der „alte Fielmann“ herhalten! Interessanterweise befindet sich dieses Fachgeschäft in einem Geschäftshaus, das man bis heute „Kommandantur“ nennt. Hier wohnte damals der amtierende Kasseler Stadtkommandant Staehle, der Vater des eingangs erwähnten Spohrschülers Hugo Staehle. Heute wird man sicher andere Möglichkeiten finden, an Spohr zu erinnern, aber diese Aktion war ein Beispiel, wie man sich Gedanken machte, um ein Ziel zu erreichen (man muss allerdings auch ein Ziel haben!).
Obwohl die Stadt Kassel zu Lebzeiten Spohrs und lange danach allein seinetwegen in aller Munde war, scheint er zur Zeit fast vergessen zu sein. Gut, die Musikakademie der Stadt Kassel erhielt vor einigen Jahren nach einer privaten Anregung den Zusatznamen „Louis Spohr“. Aber hätte man die Akademie nicht selbstbewusst „Louis-Spohr-Akademie“ (siehe oben) nennen können? Man sagt ja auch nicht „Schule der Stadt Kassel ‚Albert Schweitzer‘“, sondern „Albert-Schweitzer-Schule“ – oder „Jacob-Grimm-Schule“ oder „Fraunhofer-Institut“ …
Wenn ich an das prächtige Spohr-Denkmal mitten in der Stadt denke, dann spürt man etwas von dem Stolz der Bürger und ihrem Willen, diesen in Form eines Denkmals zum Ausdruck zu bringen. Spohr hätte das gefreut! Was wohl die Brüder Grimm zu ihrer zwergenhaften Darstellung gesagt hätten? Egal, Schwamm drüber!
Nun wird sich die Stadt 2021 sicher ins Zeug legen, um das „Spohr-Museum“ im neuen Standort standesgemäß zu etablieren. Ich bin erwartungsvoll gespannt. Doch ich habe noch das Jahr 2022 im Blick! Warum? Genau vor 200 Jahren kam Louis Spohr nach Kassel mit all den Plänen und Gedanken, wie ich sie am Anfang geschildert habe. Wäre das nicht ein Grund für …, ein Anlass, um …, eine Chance, Spohr zu …? Zeit genug wäre ja noch!
Jürgen Pasche, Dezember 2020